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Kindesopfer als "Tradition"


Statistiken belegen, daß auf der Welt heute mindestens
74 Millionen Frauen leben, denen man die Klitoris vor ihrer
Heirat entfernte. Es handelt sich um einen alten Brauch,
gegen den inzwischen sogar afrikanische Frauen protestie-
ren. Doch ihre Proteste werden nicht nur von Männern,
sondern auch von Frauen, die diesen Brauch bejahen, mit
Empörung und Drohungen quittiert. Warum verhalten sich
auch Frauen so? Sind sie nicht selbst Opfer dieses Brauches
gewesen, der auf der unmenschlichen Forderung gründet,
Frauen sollten beim Sexualverkehr keine Lust empfinden?
Müßten die afrikanischen Frauen von heute nicht ihre eige-
nen Töchter vor diesem Verlust, vor dem brutalen Schmerz
und vor der Gefahr der Infektion, durch die nicht wenige
sterben, schützen wollen? Das wäre zweifellos naheliegend,
wenn das Gesetz der Verdrängung der Wut hier nicht am
Werke wäre. Und verdrängte Wut wird unbewußt an der
nächsten Generation ausagiert.
Das Ausschneiden der Klitoris bei einem zwölfjährigen
Mädchen, ob nun mit oder ohne Anästhesie, wird ja von
erwachsenen Frauen ausgeführt, die einst Opfer der glei-
chen Prozedur waren, deren Bewußtsein aber ihre Lage
nicht registriert hat. Sie haben sich geholfen, indem sie
sowohl die Schmerzen als auch die Wut und Rachewün-
sche aus ihrem Bewußtsein verdrängten und den Brauch
sogar idealisierten. Als junges Mädchen durften sie sich
nicht wehren und mußten ihre Gefühle verdrängen - das
ist verständlich. Aber heute erklären sie als Folge dieser
Verdrängung, daß diese Prozedur richtig, notwendig und
harmlos sei. Sie können sich an den verdrängten Schmerz
nicht erinnern, sie haben ihren Verlust nie betrauert, ihn als
naturgegeben angesehen, und in der Folge muten sie das
gleiche ihren Kindern zu, ohne auch nur wissen zu wollen,
was sie ihnen damit antun.
Vor einem europäischen Gericht, das über die Ursachen
einer tödlich endenden Kastration dieser Art zu urteilen
hatte, verteidigte sich die Mutter mit dem Argument, daß
ihre Tochter ohne diese Operation nach ihrer Rückkehr in
die Heimat keinen Mann gefunden hätte. Daher sei diese
Operation unbedingt notwendig gewesen. Die vor der
Kamera interviewte Mutter schien absolut keine anderen
Motive hinter ihrem Verhalten zu vermuten.
In den Ohren eines Europäers klingt es mehr oder we-
niger absurd, daß eine so gravierende Verstümmelung der
Mädchen jahrhundertelang bejaht und heute noch gepflegt
wird. Doch bloß, weil er früh gelernt hat, an alle möglichen
anderen Lügen, nur nicht gerade an diese, zu glauben. Er
glaubt vielleicht, daß man mit einer strengen Erziehung zum
Gehorsam einen verantwortungsvollen und einfühlsamen
Menschen hervorbringt.
Ein unbefangener Leser könnte sich immerhin fragen:
Was hat der liebe Gott davon, daß Millionen von kleinen
Mädchen die Klitoris entfernt wird? Es wäre verständlich,
obschon nicht minder grausam, wenn es der Vater des
Mädchens wäre, der diese Beschneidung verlangte - weil
er vielleicht einst mit diesem Kind seine Lust befriedigte
und sie ihrem künftigen Ehemann nicht gönnte. Oder weil
er sich so stellvertretend an seiner Mutter rächte, wenn er
seine Tochter, die Frau, leiden ließ. Aber was hat Gott damit
zu tun? Weshalb wird Gottes Wille als Rechtfertigung für
diese Abrechnungen ins Feld geführt? Symbolisiert Gott
nur die Interessen der Menschen? Es ist kaum anders zu
verstehen. Warum sollte Gott derart grausame Motive für
seine Vorschriften haben? Und warum beten die Menschen
derart grausame Götter an? Dies erscheint uns, die nicht
beschnitten wurden, zumindest nicht physisch, als ganz
und gar unverständlich.
Es gibt unterschiedliche Gründe für derartige, religiös
getarnte Mißhandlungen an wehrlosen Kindern: Nicht nur
die Rache der Erwachsenen für das einst erlittene und ins
Unbewußte verdrängte Leid ist ein Auslöser. Der kritik-
lose Gehorsam gegenüber den Eltern und die von ihnen
übernommene Überzeugung, mit der Beschneidung werde
etwas Positives bewirkt, lassen diese Verstümmelung als
bewahrenswerte Tradition weiterleben.
Trotzdem gibt es in den USA bereits junge Juden - dar-
über berichtete 1987 die Zeitschrift "Mothering" -, die, ob-
wohl sie selbst religiös sind, die Beschneidung grundsätzlich
ablehnen, weil sie deren Grausamkeit erkannt haben.
Ich habe im Verbannten Wissen ausführlich den Verhal-
tensforscher Desmond Morris zitiert, der nachgewiesen
hat, daß keines der sogenannten medizinischen Argumente
für die Notwendigkeit einer Beschneidung bei Männern
stichhaltig ist. Das ist durch Untersuchungen in Amerika
und England belegt. Es handelt sich um eine Mode, an
der vor allem Ärzte verdient haben, die die Ignoranz und
Leichtgläubigkeit der Bevölkerung ausgenutzt haben. Seit
die Krankenkassen die Beschneidungen nicht mehr bezah-
len, verlor dieser "Brauch" schnell seinen Reiz, und auch
von medizinischer Notwendigkeit war nur noch auffällig
selten die Rede.
Die Versuchung, die einst unterdrückten, gut begreifli-
chen, aber mörderischen Rachewünsche des vergewaltig-
ten Kindes Jahrzehnte später ebenfalls an Kindern oder
anderen Wehrlosen abzureagieren, ist so groß, daß ihr
mit moralischen Sprüchen nicht beizukommen ist, um so
weniger, als Religionen dabei dienlich sind, diese Form
von Menschenopfer zu praktizieren, und sie sogar heili-
gen. Nur das Bewußtwerden dieser berechtigten Wut und
die berechtigten Rachewünsche kann neue Verbrechen
verhindern und den Teufelskreis der Ignoranz stoppen.
Sobald eine beschnittene Frau imstande ist, der traurigen
und empörenden Tatsache nicht länger auszuweichen, daß
ihre Eltern sie einem sinnlosen religiösen Ritual geopfert
haben, wird sie ihrer Tochter nicht mehr das gleiche antun
wollen. Sie wird wissen, wer ihre Wut verdient hat, und
nicht das unschuldige Kind für Verbrechen anderer, die ihr
einst angetan worden sind, büßen lassen.
Auch wenn das furchtbare Ritual der Klitorisbeschnei-
dung in unserem Kulturkreis nicht vorkommt, haben doch
auch unzählige andere Menschen als Kinder immer wieder
eine Amputation erleben müssen: die ihrer Gefühlswelt
nämlich, die ihnen durch Mißhandlung und Erziehung
grausam verstümmelt wurde.
Die jahrtausendealte Tradition der Kindesmißhandlung
und Kindestötung läßt sich nicht von heute auf morgen
überwinden. Das Wort "Tradition" hat noch immer einen
positiven Beiklang. In der neutralen Schweiz, die nie einen
Eroberungskrieg führte, deren Armee lediglich zur Selbst-
verteidigung existiert, wurde im Hinblick auf die Abrü-
stungstendenzen in Europa 1989 darüber abgestimmt, ob
die Armee nicht ganz abzuschaffen sei. Ein älterer Mann,
auf der Straße nach seiner Meinung befragt, erklärte, die
Armee müsse auf jeden Fall erhalten bleiben. Und zwar
"aus Tradition". Er hätte sich ja auch so äußern können:
Man kann nie wissen, welcher unserer Nachbarn sich in
Zukunft anders besinnt, wir wollen nicht abhängig sein von
den Absichten unserer großen Nachbarn, weil uns unsere
Unabhängigkeit zu wichtig ist, um ein Risiko einzugehen.
Das alles hat er nicht gesagt. Er sagte nur, man müsse eine
so aufwendige Armee aus Tradition behalten. Und der, der
ihn befragte, hat sich offenbar nicht darüber gewundert.
Sehr viele Menschen denken ebenso über die Züchtigung
von Kindern. Es sei eben Tradition, daher müsse man sie
schlagen, sie rituellen Grausamkeiten ausliefern. Weil es
eine Tradition war, mußten auch die chinesischen Mädchen
Qualen erleiden und sich die Füße verstümmeln lassen. Weil
es eine Tradition war, Menschen umzubringen, marschieren
wir seit Tausenden von Jahren in den Krieg.
Heute sind wir am Wendepunkt. Wir können nicht länger
Traditionen nur um ihrer selbst willen bejahen, wir können
nicht länger die tradierten Kriegsspiele weiterspielen, ohne
in vollem Ausmaß die Konsequenzen einer solchen Zerstö-
rung endlich wahrzunehmen. Wir müssen uns bewußt
werden, daß zu unserer Tradition auch die Kindestötung
gehörte - unsere Blindheit dieser Tradition gegenüber ist
bereits Folge dieser Praxis, und uns bleibt nichts anderes
übrig, als uns der grausamen Seiten unserer Überlieferung
bewußt zu werden, um diese nicht an künftige Generatio-
nen zu tradieren.


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